Vor Verdun tobt die Riesenschlacht. In der
Nacht vom 8. auf 9. Juli 1916 rücken neue deutsche
Sturmabteilungen nach der vordersten Linie. Gestaltlose
Wolkenmassen verfinstern den nächtlichen Himmel. Nichts ist zu
erkennen als die ungewissen Umrisse der nächsten Hügel, die
schwarz und scheinbar riesengroß von der Erde aufragen. Den
ganzen westlichen Himmelsrand entlang zieht ein zuckender
Flammenstreif, das Mündungsfeuer ungezählter französischer
Geschütze, die Sperrfeuer hinter die vordersten deutschen
Gräben legen.
Mann hinter Mann
kriecht die endlose Menschenschlange durch das Dunkel der Nacht,
über Höhen, durch Täler, Mulden und Schluchten. Unser aller
Gedanken sind bei dem grauenhaften, fast tierisch wilden Dröhnen
dort vorn. Schon ganz deutlich kann man jetzt das dumpfe Stampfen
der schweren Granaten, das harte Klirren der leichteren Geschosse
unterscheiden.
Niemand redet. Nur
manchmal dumpfes Schelten oder Fluchen, wenn einer stolpert oder
im Dunkel gegen seinen Vordermann anrennt! Verlorene
Ausrüstungsstücke, in den Boden getretene Handgranaten und
Infanteriemunition bezeichnen auf lange Strecken den Weg nach
vorn.
Schon schlagen in
einiger Entfernung von uns die ersten Granaten ein. Die Reihen
beginnen zu stocken. Wir sind am Eingang der Totenschlucht. Eine
Mauer von Feuer, Eisen und Rauch steht da drinnen,
tausendstimmiges, teuflisches Hohngebrüll verschlingt alles. Nur
manchmal sinkt die Mauer für eine halbe oder ganze Minute in
sich zusammen. Dann rennt alles, rennt um das Leben, keuchend,
stöhnend, durch Granattrichter, Schlamm und Schutt, über
Leiber, Arme und Köpfe der Toten hinweg, die schon seit vielen
Wochen hier liegen, von Feuerwirbeln umhergeschleudert,
zerstückelt, zerrissen, in die Erde gestampft. Endlos dünkt uns
die wüste Schlucht. Der jenseitige Rand scheint immer gleich
fern zu bleiben. Da endlich sind wir am Bahndamm! Wie wir durch
die Schlucht gekommen, wissen wir selbst nicht mehr. Noch über
den hohen Bahndamm hinüber! Nicht ein Fetzchen von einer
Schiene, einer Schwelle ist mehr da. Der ganze Damm ist eine
völlig zerwühlte, unförmige Erdwalze.
Ich schaue
rückwärts. Die ersten beiden Züge meiner Kompanie müssen
schon über dem Bahndamm sein. Da! - Unwillkürlich ducken wir
uns alle. Hart über unsere Köpfe heulen und zischen die
Geschosse durch die Luft. Drunten in der menschengefüllten
Schlucht schlagen sie ein. Wieder wächst die grauenhafte Mauer
empor. Der dritte Zug steckt noch dort unten. Auch mein Bruder
ist dabei! Ein paar Augenblicke starren wir alle da hinab, als
könnten wir dadurch das Entsetzliche aufhalten.
Vorwärts, weiter!
Wir dürfen nicht helfen, der ganze Vormarsch kommt sonst ins
Stocken! Seit der Schlucht ist alle Ordnung zerrissen. Die Züge
sind durcheinander geraten; zurückgebliebene Leute von anderen
Bataillonen schließen sich uns an. Von den Vorausmarschierenden
ist nichts mehr zu sehen. Ich suche mir, so gut es geht, selbst
einen Weg in dem unbekannten, nachtdunklen Gelände. Der
Flammenschein im Westen zeigt die ungefähre Richtung. Wir
springen über Gräben, fallen von einem Granatloch in das
andere.
Granaten schlagen
ein. - Keine Explosion! Nur ein dumpfer Schlag, dann langsam
aufsteigender weißer Rauch - Gasgranaten! Mit aufgesetzten
Gasmasken stolpern wir, so gut es geht, weiter durch das Dunkel.
Man geht wie mit verbundenen Augen. Noch eine flache Höhe
hinauf, und wir sind in der Sturmausgangsstellung angelangt. Auch
hier liegt feindliches Artilleriefeuer. Alles geht drunter und
drüber. Die Kompanien zu dichten Knäueln zusammengeballt,
nirgends mehr Ordnung, alles ein heilloses Durcheinander! Ich
schaue mich innerhalb meiner Kompanie um. Jede Mulde, jeder
Graben, jedes Granatloch steckt voller Menschen: fremde und
eigene Leute. Von meinem Bruder, der mir nach Eintreffen in der
Stellung Meldung machen sollte, ist nichts zu sehen. Ich rufe
einige Male laut seinen Namen. Keine Antwort! An dem Platze, wo
ich gerade bin, lege ich mich hin: ein alter französischer
Graben, von unseren Granaten fast völlig eingedrückt und
verschüttet. Vom steinigen Boden dringt eisige Kälte durch
meine Kleider - aber ich werde dennoch schlafen können. Wenn nur
der süßliche Leichengeruch nicht wäre! Die Luft ist voll, dick
voll davon.
Was wird nun
morgen werden? Ein großangelegter Angriff bei diesem Wirrwarr?
Wüßte ich nur, was mit meinem Bruder ist! Alle Gedanken, die
durch mein müdes Gehirn gehen, springen immer wieder auf dieses
Eine, Dunkle zurück. Ich versuche mir alle Möglichkeiten klar
zu machen. Vielleicht liegt er gar nicht allzuweit von hier in
irgendeinem Graben und denkt an mich, wie ich an ihn. Ich bin so
müde, ach so müde! Die Gedanken irren in wirrer Folge an mir
vorüber, erlöschen und tauchen wieder auf, aus irgendeiner
dunklen Tiefe heraus. Das bin gar nicht mehr ich, der da denkt!
Fast zwei Stunden
mag ich so geschlafen haben, tief, traumlos. Noch immer ist
Nacht, dunkle Nacht. Ein Stern blinzelt irgendwo müde zwischen
dunklen Wolkenbänken hervor, und noch immer versucht das
Brüllen der Geschütze das Dunkel der Nacht zu zerreißen. Hoch
am Himmel zeichnen fliegende Geschosse Feuerbahnen. Zwei Uhr,
dreißig Minuten! Um fünf Uhr zehn beginnt der Sturm. Drei Uhr
fünfzehn! Der Morgen beginnt zu grauen. Alles noch trüb,
formlos, in Dämmer gehüllt! Erde und Menschen scheinen aus
irgendeinem dunklen Chaos emporzutauchen. In den Lüften rollt
wie wogende See Geschützdonner.
Das Licht wächst.
Einförmig braunes Land steigt rings empor, tausendfach von
Granaten zerpflügt, zerrissen. Freundliche Dörfer, rauschende
Bäume waren dort einstmals. Nun ist alles weggefegt, zerfetzt.
Auch nicht das winzigste Fleckchen Wiesengrün leuchtet mehr, nur
tote, braune Wüste, wie Mondland mit unzähligen Kratern. Bis
zum Himmelsrand hinaus kein Leben, nicht Mensch, nicht Tier oder
Pflanze! Nur die Wölkchen der berstenden Granaten tanzen über
die weite Öde. Die ganze Nacht habe ich, ohne es zu merken, auf
der Leiche eines Franzosen gelegen. Der einstürzende Graben hat
ihn fast ganz verschüttet. Nur das aufgedunsene, schwarzblau
angelaufene Gesicht schaut noch aus der kalkigen Erde hervor. Mit
weitaufgerissenen, leeren Augen stiert er mich an.
Ich gehe, um
letzte Anordnungen für den Sturm zu treffen. Der erste und
zweite Zug meiner Kompanie sind fast noch vollzählig. Vom
dritten Zug sind nur noch die vordersten fünf Mann da. Sie
erzählen, sie seien gerade noch aus der Schlucht herausgekommen,
von den übrigen hätten sie von da ab nichts mehr gesehen. Von
meinem Bruder weiß niemand etwas. Ich suche auch noch in den
benachbarten Stellungen. Einer glaubte, er habe ihn mit
verbundenem Arm zurückgehen sehen. An der Figur habe er ihn
erkannt; gewiß könne er es es aber nicht sagen.
Vier Uhr vierzig
Minuten! Die Hölle ist los! Unsere Artillerie feuert wie rasend
auf die feindlichen Stellungen. Man hört keinen Schuß mehr, es
ist wie das Donnern und Dröhnen eines ungeheuren Wassersturzes,
das Brausen und Rauschen eines gigantischen Stromes. Luft und
Erde erzittern und schwingen unaufhörlich. Über
Souville steht turmhohes braunes Gewölk.
Erdfontänen springen hoch in die Lüfte, ein Regen von
Felsbrocken, Steinen und Eisenstücken prasselt dort
unaufhörlich nieder. Riesengroß, in grauenhafter Gestalt, hockt
der Tod da drüben und frißt Menschen; und über unseren Köpfen
singen die sausenden Geschosse ihr gespenstisches Lied. Das
klingt wie Gurgeln und Röcheln Sterbender, wie weinende,
schluchzende und klagende Menschenstimmen.
Und wir hocken
zusammengekauert in unseren Löchern und horchen stumm auf das
schaurige Todeslied. Die französische Artillerie legt wieder
starkes Sperrfeuer auf unsere Gräben.
Ich schaue auf die
Uhr. Fünf Uhr - fünf Uhr fünf - acht - zehn Minuten! Auf,
marsch marsch! Und aus der zerrissenen, geborstenen Erde hervor
steigen Hunderte von Menschenleibern, stürzen vorwärts über
das tote, braune Land, vornüber gebeugt, keuchend, immer auf das
Fort zu. Tack tack tack tack, sagt das französische
Infanteriefeuer, rattattattat, rasseln die Maschinengewehre,
einförmig wie Drehorgeln.
Neben mir greift
einer mit beiden Händen in die Luft, als wolle er sich an etwas
Unsichtbarem halten, und bricht dann zusammen. Ein anderer mit
Kopfschuß fällt kerzengerade wie eine umgehauene Tanne.
Nun erst sehe ich
es: links von uns geht niemand vor. Die sind im Sperrfeuer
steckengeblieben. Auch weiter rechts ist eine breite Lücke, und
nur ganz draußen wieder sieht man die andern vorgehen.
Im Augenblick wir
mir klar: der Angriff ist fehlgeschlagen!
Der Gegner hat im
letzten Augenblick große Truppenmassen nach vorn geworfen. Einem
kleinen Häuflein vom Nachbarregiment gelingt es, in das Fort
einzudringen. Drinnen werden sie vom überlegenen Feind
niedergemacht.
Es ist umsonst!
Wir müssen wieder zurück in die alte Stellung. Im alten Graben
und dahinter, in Mulden und Granattrichtern, ballen sich die
zurückflutenden Menschenmassen. Und nun richten die
französischen Batterien ihre Geschützrohre auf uns. Die ersten
Granaten hauen ein. Einige fahren hinter uns den Berg hinab, ein
paar sitzen schon mitten im überfüllten Graben.
Und jetzt beginnt
das gleichförmige Hämmern der Geschosse. Erde spritzt. Blutige
Gewandfetzen, Hirn, Dreck, stinkender Rauch und Qualm! Dann
wieder lange Pausen, in denen man noch eine Weile den Regen von
Erdschollen, Steinen und Eisensplittern niederprasseln hört!
Ein Verwundeter
brüllt wie ein Tier.
Ich gehe die
Stellung ab, um nach meinen Leuten zu sehen. Überall in den
Löchern und Gräben ein Wirrwarr von Waffen und lang
hingestreckten oder kauernden Gestalten! Lebende und Tote gleich
regungslos und starr! Viele Schwerverwundete!
Neun Uhr
vormittags! Das Feuer dauert noch immer an. Da wir
voraussichtlich hier bleiben werden, gebe ich Befehl zum
Eingraben. Auch ich suche mir eine geeignete Stelle. Ein paar
Spatenstiche! Schmierige, breiartige Leichenfetzen, Schaufeln
voll weißer Würmer grabe ich heraus. Ich suche einen anderen
Platz. Wieder dasselbe! Da gebe ich es auf.
Elf Uhr mittags!
Das feindliche Feuer geht weiter. Von meiner Kompanie ist kaum
noch die Hälfte da, die andere Hälfte ist verwundet oder tot.
Fast überall wo ich hinkomme, müde, gequälte Gesichter mit
flackernden Augen! Dazwischen völlig Apathische, halb schlafend
oder wie Irre geradeaus auf einen Fleck starrend!
An einigen
Gestalten aber habe ich meine rechte Freude: gebräunte, knochige
Gesichter unter dem schweren Stahlhelm. Aufrecht lehnen diese
Braven an der Grabenwand und schauen um sich, so ruhig und
sicher, als ob Sterben das einfachste Ding von der Welt wäre.
Menschen, in denen noch die ganze Urkraft der Erde lebt, Männer,
die alles Geschehen still und groß an sich vorübergehen lassen
wie die uralte Erde selber. Mancher von ihnen hat den Abend nicht
mehr gesehen.
Zwei Uhr dreißig
Minuten! Mittags ist die Sonne durchs Gewölk gebrochen. Die
Hitze, die staubige Luft machen quälenden Durst. Fast niemand
mehr hat etwas Trinkbares. Mit Mühe würge ich mein bißchen
Essen durch die ausgedörrte Kehle hinab. Das feindliche Feuer
ist noch stärker geworden. Ich spüre, wie meine Nerven langsam
müde werden. Alle schwirren sie wirr durcheinander, wie die
Saiten eines Klaviers, bei dem man alle Saiten auf einmal
angeschlagen hat. Irgend etwas Unsichtbares liegt lähmend auf
mir, auf Kopf, Brust, Armen und Beinen. Mit aller Kraft stemme
ich mich dagegen. Und immer wieder das teuflische Zischen der
Geschosse, das an den Nerven zerrt und rüttelt, als müßten sie
reißen!
Was früher war,
Vergangenheit, Heimat, Glück, alles ist mir ein verblaßter,
lang erloschener Traum. War es denn wirklich, daß der Mann neben
mir von einem Granatsplitter in die Schläfe getroffen wurde? Er
lehnt noch, gerade wie vorher, schlafend an der Grabenwand. Doch
das Gehirn quillt aus der Schläfenwunde, und der Mund ist ein
wenig verzogen, aber alles andere ist noch gleich: Tornister,
Gewehr, die Drahtschere, Handgranaten. Auch der Pionier mit dem
Flammenwerfer liegt noch neben mir. Ich könnte das alles
ebensogut geträumt haben.
Wenn nur der Abend
käme! Aber vielleicht bin ich bis dahin längst tot. Fast
besser, dann hätte ich wenigstens Ruhe! Aber nur klaren Kopf
behalten, ich habe als Führer Verantwortung. Der Feind kann jede
Minute zum Gegenstoß ansetzen. Wir alle wissen nur das eine, wir
müssen in dieser Hölle standhalten - wir müssen! Ich will
nochmals zum Bataillonskommandeur und anfragen, ob neue Befehle
gekommen sind.
Wir bleiben hier!
Wieder lehne ich mich in die Grabenecke und lege den gefüllten
Tornister als Schutz gegen Splitter auf meinen Leib. Es ist
scheußlich, so untätig daliegen zu müssen. Man horcht auf die
dumpf stampfenden Einschläge der Granaten. Immer näher kommen
sie. Die nächsten müssen bei uns sein. Da, die Erde wankt!
Schutt und Steine fallen vom Grabenrand, auf uns. Wieder ist es
vorübergegangen! Und alles beginnt nun von neuem. Einmal fährt
eine Granate einen Dezimeter von mir in den Grabenrand. Ein
Versager!
Wann wird das zu
Ende sein? Manchmal ist mir, als hätte ich siedendes Blei im
Kopf. Und doch kann ich alles um mich so ruhig betrachten, als
stünde ich irgendwo als Zuschauer, bei einem Rennen oder
Schauspiel. Meine Überlegung ist sicher und klar. Mir selbst
kommt das jetzt gar nicht mehr wunderlich vor. Neben mir
phantasiert ein Schwerverwundeter, stöhnt in grausigen Tönen.
Gleichgültig kann ich zuhören. Das Grauen hat mein Gefühl
erstickt, erwürgt. Ich glaube, wenn der da mein Bruder wäre,
ich könnte nicht mehr empfinden. Nichts vermag auf mich mehr
Eindruck zu machen. Ich selber, alles um mich, erscheint mir wie
ein einziger Mechanismus. Manchmal helfe ich einem Verwundeten.
Ich weiß das nur von früher her, daß das so sein muß.
Endlich Abend!
Meine ganze Kompanie ist nur mehr 30 Mann stark. Der Gegenstoß
des Feindes, den ich erwartet hatte, ist ausgeblieben. Blutig rot
ist die Sonne untergegangen. Ein erster Stern flackert am Himmel.
Das feindliche Artilleriefeuer ist nur noch schwach. In mir
erwacht langsam wieder der alte Mensch.
Zwei Tage liegen
wir noch hier vorn. In der dritten Nacht werden wir abgelöst.
Wieder geht es durch die Totenschlucht. Wieder steht Feuer,
wieder Eisen und Rauch, da drinnen. Kurze Pause! Wir rennen. Zu
früh! Rings um uns dröhnt die Erde. Feuergarben schießen zum
Himmel. Blitzschnell werfe ich mich nieder, und beim
Höllenschein der berstenden Granaten sehe ich vor mir, nur einen
Augenblick lang, ein wohlbekanntes bleiches Gesicht, wie eine
Vision. Mit geschlossenen Augen kann ich es im Dunkel noch sehen.
Ich brauche gar nicht mehr nachzuschauen, ich weiß, daß er es
ist. Beim Schein der Taschenlampe suche ich. Die Narbe links am
Kinn, der Name auf der Erkennungsmarke, alles stimmt. Die Augen
halb offen, mit stillem, wundersam friedlichen Gesicht, als
hörte er auf fernher klingende Musik, so liegt er da. Ein
Granatsplitter hat ihm die Brust aufgerissen. Ich habe das
geahnt, ja fast gewußt. Und doch stockt mir ein paar Augenblicke
lang der Herzschlag. Dann werde ich ruhig. Ich rufe meine
Meldegänger. Zu viert tragen wir ihn fort. Da rasen wieder die
Granatwirbel. Ein Geschoß schlägt dicht bei uns ein. Es
schleudert den Leichnam meines Bruders zur Seite. Der eine
Meldegänger ist schwer verwundet.
Ich kämpfe mit
mir selber. Nein! Ich darf die Lebenden nicht den Toten opfern.
Der Verwundete muß gerettet werden. Wenn wir noch länger
zögern, kommt keiner mehr von uns aus der Schlucht. Rasch nehme
ich Erkennungsmarke, Papiere und alle Sachen meines Bruders zu
mir. Beim Schein der Taschenlampe ein letzter langer Blick in das
liebe Antlitz! Dann hülle ich seinen Kopf und Oberkörper in
meinen Mantel und wende mich ab. Ich weiß, ich werde ihn nie
mehr wiedersehen. Granaten werden ihn verschütten, vielleicht
zerfetzen.
Den Verwundeten
mühsam mit uns schleppend, erreichen wir heil den Ausgang der
Schlucht. Erst in der nächsten Nacht schreibe ich an die Eltern.
»In der Nacht
vom 8. auf den 9. Juli ist er beim Vormarsch durch die Totenschlucht gefallen. Ein Granatsplitter traf ihn in die linke
Brustseite.« Da stocke ich. Einige Augenblicke überlege
ich, dann schreibe ich weiter,
»er liegt bei Fort
Douaumont
begraben.«
Draußen leuchten
die stillen Sterne, die Wälder stehen groß und dunkel wie
Träume der Erde, und nur von fernher klingt noch matt der Donner
der Schlacht.
In den schwarzen Kronen
der Bäume aber klagt leise der Nachtwind:
»Vorüber,
vorüber! Vorbei, vorbei!« |