Da sie selbst so wacker waren und in
solcher, so ziemlich sich gleichbleibenden Weise gerecht ihr
eigenes Vaterland und Hellas verwalteten, erwarben sie sich durch
körperliche Schönheit und die allseitigen Vorzüge ihres
Geistes durch ganz Europa und Asien einen Ruf und waren unter
allen damals Lebenden die gepriesensten. Wie dagegen der Zustand
der zum Kampfe gegen sie Auftretenden beschaffen war und wie er
von Anbeginn an sich gestaltete, das wollen wir euch jetzt,
verlor sich uns nicht das, was wir als Knaben hörten, in
Vergessenheit, als ein den Freunden zuständiges Gemeingut
mitteilen. Doch eine Kleinigkeit müssen wir noch unserer
Erzählung vorausschicken, damit es euch nicht etwa wundernehme,
wenn Barbaren hellenische Namen führen; sollt ihr doch den Grund
davon vernehmen. Da nämlich Solon die Absicht hatte, diese
Erzählung bei seinen Dichtungen zu benutzen, forschte er genau
der Bedeutung der Eigennamen nach und fand, daß jene Ägypter,
welche zuerst sie aufzeichneten, dieselben in ihre Sprache
übertragen hatten; da nahm er selbst den Sinn jedes Eigennamens
wieder vor und schrieb sie, indem er auf unsere Sprache sie
zurückführte, nieder. Diese Aufzeichnungen aber befanden sich
in den Händen meines Großvaters und befinden sich noch in den
meinigen und wurden schon in meinem Knabenalter von mir
durchforscht. Demnach nehme es euch nicht wunder, wenn ihr auch
dort Eigennamen wie hierzulande hört, wißt ihr doch nun den
Grund davon. Folgendes war der Eingang zu einer langen
Erzählung.
Wie im Vorigen von der von den
Göttern angestellten Verlosung erzählt wurde, daß sie unter
sich die ganze Erde in bald größere, bald kleinere Lose
verteilten und sich Tempel erbauen und Opfer darbringen ließen:
so bevölkerte auch Poseidon, dem jene Insel
Atlantis
zum Lose fiel, dieselbe mit seinen eigenen Nachkommen, die er mit
einem sterblichen Weibe an einer folgendergestalt beschaffenen
Stelle der Insel erzeugte. An der Seeküste, gegen die Mitte der
ganzen Insel, lag eine Ebene, die schöner und fruchtbarer als
irgendeine gewesen sein soll. In der Nähe dieser Ebene aber,
wiederum nach der Mitte zu, befand sich, vom Meer in einer
Entfernung von etwa 50 Stadien, ein allerwärts niedriger Berg;
auf diesem wohnte ein Mann, namens Euenor, aus der Zahl der
anfänglich der Erde Entwachsenen, welcher die Leukippe zur Frau
hatte. Beide erzeugten eine einzige Tochter, Kleito. Als das
Mädchen bereits die Jahre der Mannbarkeit erreicht hatte,
starben ihr die Mutter und auch der Vater; Poseidon aber, von
Liebe zu ihr ergriffen, verband sich mit ihr und machte den
Hügel, den sie bewohnte, zu einem wohlbefestigten, indem er ihn
ringsum durch größere und kleinere Gürtel abwechselnd von
Wasser und Erde abgrenzte, nämlich zwei von Erde und drei von
Wasser, die er mitten aus der Insel gleichsam herausdrechselte,
überallhin gleich weit voneinander entfernt, so daß der Hügel
für Menschen unzugänglich war, da es damals noch ebensowenig
Schiffe wie Schiffahrt gab. Er selbst verlieh, als ein Gott, ohne
Schwierigkeit der in der Mitte liegenden Insel fröhliches
Gedeihen, indem er zwei Flüsse aus der Erde heraufführte, deren
einer seiner Quelle warm, der andere kalt entquoll, und der Erde
Nahrungsmittel aller Art zur Genüge entsprießen ließ.
Ferner zeugte er fünf männliche
Zwillingspaare, ließ sie auferziehen und verlieh, indem er die
ganze Insel Atlantis in zehn Teile teilte, dem zuerst Geborenen
des ältesten Paares den Wohnsitz seiner Mutter und den diesen
rings umgebenden Anteil, als den größten und vorzüglichsten,
und machte ihn zum König der übrigen, die übrigen aber zu
Statthaltern; jedem derselben bestimmte er eine Statthalterschaft
mit zahlreichen Bewohnern und einem weiten Gebiete. Allen gab er
Namen, dem Ältesten und Könige aber denjenigen, nach welchem
auch die ganze Insel und das Meer genannt wurde, welches deshalb
das Atlantische hieß, weil damals der erste König den
Namen Atlas führte. Dessen nachgeborenen Zwillingsbruder, dem
das äußerste, nach den
Säulen des Herakles, dem Landstrich, der jetzt der Gadeirische
heißt, gelegene Stück der Insel zugefallen war, nannte er in
griechischer Sprache Eumelos, in der des Landes aber
Gadeiros,
was dann jenem Gebiet die Benennung geben konnte. Den einen der
zweiten Zwillingsgeburt nannte er Ampheres, den zweiten Euaimon;
den erstgeborenen der dritten Mneseus, den nach diesem geborenen
Autochthon; den älteren der vierten Elasippos, den jüngeren
Mestor; dem Erstling der fünften wurde der Name Azaes, dessen
jüngerem Bruder der Name Diaprepes beigelegt. Diese insgesamt
nun sowie ihre Nachkommen beherrschten viele Menschenalter
hindurch noch viele andere im Atlantischen Meere gelegene
Inseln
und dehnten auch, wie schon früher berichtet wurde, ihre
Herrschaft über die innerhalb der Säulen des Herakles nach uns
zu Wohnenden bis nach Ägypten und Tyrrhenien hin aus.
Die Nachkommenschaft des Atlas aber
wuchs nicht bloß im übrigen an Zahl und Ansehen, sondern
behauptete auch die Königswürde viele Menschenalter hindurch,
indem der Älteste sie stets auf den Ältesten übertrug, da sie
eine solche Fülle des Reichtums erworben hatten, wie weder
vorher bei irgendeinem Herrschergeschlecht in den Besitz von
Königen gelangt war noch in Zukunft so leicht gelangen dürfte,
und da bei ihnen für alles gesorgt war, wofür in bezug auf
Stadt und Land zu sorgen not tut. Denn vermöge ihrer Herrschaft
floß von außen her ihnen vieles zu, das meiste für den
Lebensbedarf aber lieferte ihnen die Insel selbst. Zuerst, was da
an Starrem und Schmelzbarem durch den
Bergbau
gewonnen wird, und auch die jetzt nur dem Namen nach bekannte Art
- damals dagegen war mehr als ein Name die an vielen Stellen der
Insel aus der Erde gegrabene Gattung des Bergerzes, welche unter
den damals Lebenden, mit Ausnahme des Goldes, am höchsten
geschätzt wurde. Ferner brachte die Insel auch alles in reicher
Fülle hervor, was der Wald für die Werke der Bauverständigen
liefert, und an Tieren eine ausreichende Menge wilder und zahmer.
Und so war denn auch das Geschlecht der
Elefanten
hier sehr zahlreich; bot sie doch ebenso den übrigen Tieren
insgesamt, was da in Seen, Sümpfen und Flüssen lebt und was auf
Bergen und in der Ebene haust, reichliche Nahrung wie auch in
gleicher Weise diesem von Natur größten und gefräßigsten. Was
ferner jetzt irgendwo die Erde an Wohlgerüchen erzeugt, an
Wurzeln, Gräsern, Holzarten und Blumen oder Früchten
entquellenden Säften, das erzeugte auch sie und ließ es wohl
gedeihen, sowie desgleichen die durch Pflege gewonnenen Früchte;
die Feldfrüchte, die uns zur Nahrung dienen, und das, was wir
außerdem - wir bezeichnen die Gattungen desselben mit dem Namen
der Hülsenfrüchte - zu unserem Unterhalt benutzen; was
Sträucher und Bäume an Speisen, Getränken und Salben uns
bieten, die uns zum Ergötzen und Wohlgeschmack bestimmten,
schwer aufzubewahrenden Baumfrüchte und, was wir als Nachtisch
dem Übersättigten, eine willkommene Auffrischung des
überfüllten Magens, vorsetzen; dieses alles brachte die
heilige, damals noch von der Sonne beschienene Insel schön und
wunderbar und in unbegrenztem Maße hervor. Da ihnen nun ihr Land
dieses alles bot, waren sie auf die Aufführung von Tempeln und
königlichen Palästen, von Häfen und Schiffswerften sowie
anderen Gebäuden im ganzen Lande bedacht und schmückten es in
solcher Aufeinanderfolge aus.
Zuerst überbrückten sie die um den
alten Hauptsitz laufenden Gürtel des Meeres, um nach außen und
nah der Königsburg einen Weg zu schaffen. Diese Königsburg
erbauten sie aber sogleich vom Anbeginn in diesem Wohnsitze des
Gottes und ihrer Ahnen; indem aber der eine von dem andern
dieselbe überkam, suchte er durch jedesmalige
Weiterausschmückung des Wohlausgeschmückten seinen Vorgänger
nach Kräften zu übertreffen, bis sie ihre Wohnung zu einem
durch Umfang und Schönheit Staunen erregenden Bau erhoben. Denn
vom Meere aus führten sie einen 300 Fuß breiten, 100 Fuß
tiefen und 50 Stadien langen Durchstich nach dem äußersten
Gürtel, durch, welchen sie der Einfahrt vom Meere nach ihm wie
nach einem Hafen den Weg bahnten, indem sie einen für das
Einlaufen der größten Schiffe ausreichenden Raum eröffneten.
Auch durch die Erdgürtel, welche
zwischen denen des Meeres hinliefen, führten sie, an den
Brücken hin, Durchstiche, breit genug, um einem Dreiruderer die
Durchfahrt von dem einen zu den anderen zu gestatten, und
überdachten dieselben, damit man unter der Überdachung
hindurchschiffen könne; denn die Erdgürtelränder erhoben sich
hoch genug über das Meer. Des größten Gürtels, mit welchem
das Meer durch den Graben verbunden war, Breite betrug 3 Stadien;
ebenso breit wie dieser war der folgende Erdgürtel. Von den
beiden nächsten hatte der flüssige eine Breite von 2 Stadien,
und der feste war wieder ebenso breit wie der ihm vorausgehende
flüssige. Ein Stadion breit war endlich der um die in der Mitte
liegende Insel selbst herumlaufende. Die Insel aber, auf welcher
die Königsburg sich erhob, hatte 5 Stadien im Durchmesser. Diese
Insel sowie die Erdgürtel und die 100 Fuß breite Brücke
umgaben sie von beiden Seiten mit einer steinernen Mauer und
errichteten auf den Brücken bei den Durchgängen der See nach
jeder Seite Türme und Tore. Die Steine dazu aber - teils weiße,
teils schwarze, teils auch rote - wurden unter der in der Mitte
liegenden Insel und unter der Innen- und Außenseite der Gürtel
gehauen und so beim Aushauen zugleich doppelte Behälter für die
Schiffe ausgehöhlt, die vom Felsen selbst überdacht wurden. Zu
den Bauten benutzten sie teils Steine derselben Farbe, teils
fügten sie zum Ergötzen, um ein von Natur damit verbundenes
Wohlgefallen zu erzeugen, ein Mauerwerk aus verschiedenartigen
zusammen. Den ganzen Umfang der den äußersten Gürtel
umgehenden Mauer versahen sie mit einem Überzuge von Kupfer,
übergossen den des inneren mit Zinn, den um die Burg selbst
aufgeführten aber mit wie Feuer glänzendem Bergerz.
Der Königssitz innerhalb der Burg
war folgendergestalt auferbaut. Inmitten desselben befand sich
ein unzugängliches, der Kleito und dem Poseidon geweihtes
Heiligtum, mit einer goldenen Mauer umgeben, ebenda, wo einst das
Geschlecht der zehn Herrscher erzeugt und geboren wurde. Dahin
brachten sie jährlich aus den zehn Landschaften jedem derselben
die Früchte der Jahreszeit als Opfer. Der Tempel des Poseidon
selbst war ein Stadion lang, 500 Fuß breit und von einer
entsprechenden Höhe, seine Bauart fremdländisch. Von außen
hatten sie den ganzen Tempel mit Silber überzogen, mit Ausnahme
der mit Gold überzogenen Zinnen. Im Innern war die Wölbung von
Elfenbein, mit Verzierung von Gold und Silber und Bergerz; alles
übrige, Wände, Säulen und Fußboden, bedeckten sie mit
Bergerz. Hier stellten sie goldene Standbilder auf; den Gott stehend, als eines
mit sechs Flügelrossen bespannten Wagens Lenker, der vermöge seiner
Größe mit dem Haupt die Decke erreichte; um ihn herum auf Delphinen
hundert Nereiden, denn soviel, glaubte man damals, gäbe es von
ihnen. Auch viele andere, von Männern aus dem Volke geweihte
Standbilder befanden sich darinnen; außerhalb aber umstanden den
Tempel die goldenen Bildsäulen aller von den zehn Königen
Abstammenden und ihrer Frauen sowie viele andere große Weihgeschenke
der Könige und ihrer Bürger aus der Stadt selbst und dem außerdem
ihrer Herrschaft unterworfenen Lande. Auch der Altar entsprach,
seinem Umfange und seiner Ausführung nach, dieser Pracht, und ebenso
war der königliche Palast angemessen der Größe des Reiches und
angemessen der Ausschmückung der Tempel. So benutzten sie auch die
Quellen, die kalt und warm strömenden, die einen reichen Zufluß an
Wasser hatten und wovon jede durch Annehmlichkeit und Güte des
Wassers wundersam zum Gebrauch geeignet war, indem sie dieselben mit
Gebäuden und an Wasser gedeihenden Baumpflanzungen umgaben sowie mit
teils unbedeckten, teils für die warmen Bäder im Winter überdeckten
Baderäumen, den königlichen abgesondert von denen des Volks sowie
denen der Frauen, geschieden von den Schwemmen der Pferde und des
anderen Zugviehs, diese alle mit einer der Bestimmung eines jeden
angemessenen Einrichtung. Von dem abfließenden Wasser aber leiteten
sie einen Teil nach dem
Haine Poseidons, zu Bäumen aller Art, vermöge der Trefflichkeit
des Bodens von überirdischer Schönheit und Höhe; den anderen
aber, vermittels neben den Brücken hinlaufender Kanäle, nach
den Gürteln außerhalb, wo vielen Göttern viele Tempel auferbaut waren, außerdem viele Gärten und Übungsplätze für
Menschen und davon geschieden für Pferde, auf jeder der beiden
Inseln; unter anderem war mitten auf der größten Insel eine
Rennbahn abgegrenzt, deren Breite ein Stadion betrug und welche
ihrer Länge nach, zum Wettrennen der Pferde bestimmt, die ganze
Insel umkreiste. Zu beiden Seiten dieser Rennbahn befanden sich
für die Masse der Leibwächter bestimmte Wohnungen; die
zuverlässigeren aber waren auf dem kleineren, der Königsburg
näheren Gürtel als Wachtposten verteilt, und denjenigen, die
durch ihre Treue vor allen andern sich auszeichneten, Wohnungen
in der Burg um die der Könige selbst herum angewiesen. Die
Schiffswerften waren mit Kriegsschiffen und allem Zubehör eines
solchen Schiffes angefüllt, alles aber war vollkommen
ausgerüstet.
Solche Einrichtungen waren im
Urkreise des Königssitzes getroffen. Hatte man aber nach außen
die Häfen, deren drei waren, überschritten, dann lief vom Meere
aus eine Mauer rings herum, welche allerwärts vom größten
Hafen und Gürtel 50 Stadien entfernt war und welche mit dem
Eingang zum Durchstich ihren am Meere gelegenen Teil in eins
verband. Diesen ganzen Raum nahmen zahlreiche und dicht gereihte
Wohnhäuser ein; die Einfahrt und der größte Hafen aber waren
mit allerwärtsher kommenden Fahrzeugen und Handelsleuten
überfüllt, welche bei solcher Menge am Tag und in der Nacht
Geschrei, Lärm und Getümmel aller Art erhoben.
So ward also jetzt so ziemlich das
erzählt, was einstmals über die Stadt und die Umgebung des
ursprünglichen Wohnsitzes berichtet wurde. Aber wir müssen auch
zu berichten versuchen, wie die Natur und die Art der Einrichtung
des übrigen Landes beschaffen war. Erstens also war, der
Erzählung nach, die ganze Gegend vom Meere aus sehr hoch und
steil,
das die Stadt Umschließende dagegen durchgängig eine ihrerseits
von bis an das Meer herablaufenden Bergen rings umschlossene
Fläche und gleichmäßige Ebene, durchaus mehr lang als breit,
nach der einen Seite 3000 Stadien lang, vom Meere landeinwärts
aber in der Mitte deren 2000 breit. Dieser Strich der ganzen
Insel lief, nordwärts gegen den Nordwind geschützt, nach
Süden. Von den ihn umgebenden Bergen wurde gerühmt, daß sie an
Menge, Größe und Anmut alle jetzt noch vorhandenen
überträfen. Sie umfaßten viele reiche Ortschaften der
Umwohnenden sowie Flüsse, Seen, Wiesen zu ausreichendem Futter
für alles wilde und zahme Vieh, desgleichen Waldungen, die durch
ihren Umfang und der Gattungen Verschiedenheit für die Vorhaben
insgesamt und für jedes einzelne vollkommen ausreichend waren.
Diese Ebene hatte sich nun von Natur
und durch die Bemühungen einer langen Reihe von Königen in
langer Zeit dermaßen gestaltet. Sie bildete ein größtenteils
rechtwinkliges und längliches Viereck; was aber daran fehlte,
war durch einen ringsherum aufgeworfenen Graben ausgeglichen.
Obgleich aber das, was von seiner Tiefe, Länge und Breite
erzählt wird, für ein Menschenwerk, mit anderen mühsamen
Schöpfungen verglichen, unglaublich klingt, muß dennoch
berichtet werden, was wir gehört haben. Der Graben war nämlich
bis zu einer Tiefe von 100 Fuß aufgeworfen, seine Breite betrug
allerwärts ein Stadion und, da er um die ganze Ebene
herumgeführt war, seine Länge 10.000 Stadien. Indem derselbe
aber, die Ebene umschließend, die von den Bergen
herabströmenden Flüsse in sich aufnahm und von beiden Seiten
der Stadt sich näherte, so ward ihm da der Ausfluß in das Meer
eröffnet. Von seinem weiter landeinwärts gelegenen Teil wurden
wieder gerade, gegen 100 Fuß breite Durchstiche durch die Ebene
nach dem dem Meere zuliegenden Graben geführt, deren einer von
dem andern 100 Stadien entfernt war. Auf diesem Wege brachten sie
zu Schiffe das Bauholz aus den Bergen nach der Stadt und andere
Erzeugnisse der Jahreszeiten, indem sie Durchfahrten von einem
Durchstiche zum anderen in schiefer Richtung sowie nach der Stadt
zu eröffneten.
Zwei Ernten brachte ihnen jährlich
der Boden, den im Winter der Regen des Zeus befruchtete, während
man im Sommer den Erzeugnissen desselben von den Durchstichen aus
Bewässerung zuführte.
Was die Streiterzahl betraf, so war
angeordnet, daß von den zum Kriege tauglichen Bewohnern der
Ebene jeder Bezirk, dessen Flächenraum sich auf 10 mal 10
Stadien belief und deren überhaupt 60000 waren, einen
Feldhauptmann stelle; die Anzahl der von den Bergen und
anderweitigen Landstrichen her Kommenden wurde als unermeßlich
angegeben, und alle insgesamt waren, ihren Wohnorten und deren
Lage nach, diesen Bezirken und Feldhauptleuten zugeteilt. Jeder
Feldhauptmann mußte nach Vorschrift in das Feld stellen: zu
l0000 Streitwagen den sechsten Teil eines Streitwagens, zwei
berittene Streiter, ferner ein Zwiegespann ohne Wagenstuhl,
welches einen leichtbeschildeten Streiter und nächst ihm den
Lenker der beiden Pferde trug; zwei Schwergerüstete, an
Bogenschützen und Schleuderern zwei jeder Gattung, so auch an
Leichtgerüsteten, nämlich Steinwerfern und Speerschleuderern,
von jeder drei; endlich vier Seesoldaten zur Bemannung von 1200
Schiffen. So war die Kriegsrüstung für den Herrschersitz des
Königs angeordnet, für die neun übrigen anderes anders, was
anzugeben zu viel Zeit erheischen würde.
In Beziehung auf Herrsch- und
Strafgewalt waren von Anbeginn an folgende Einrichtungen
getroffen. Jeder einzelne der zehn Könige übte in seiner Stadt
Gewalt über die Bewohner seines Gebietes und über die meisten
Gesetze; er bestrafte und ließ hinrichten, wen er wollte. Aber
die untereinander geübte Herrschaft und ihren Wechselverkehr
bestimmte Poseidons Gebot, wie das Gesetz es ihnen überlieferte
und eine Schrift, von den ersten Königen aufgezeichnet auf einer
Säule
von Bergerz, welche in der Mitte der Insel im Tempel Poseidons
sich befand, wo sie sich das eine Mal im fünften, das andere im
sechsten Jahre, um der geraden und ungeraden Zahl gleiche Ehre zu
erweisen, versammelten. Bei diesen Zusammenkünften berieten sie
sich über gemeinsame Angelegenheiten, untersuchten, ob jemand
einem Gesetze zuwiderhandle, und fällten sein Urteil. Waren sie
im Begriff, Urteile zu fällen, dann verpflichteten sie sich
zuvor gegeneinander in folgender Weise. Nachdem die zehn Könige
alle Begleitung entlassen hatten, jagten sie den im Weihbezirk
Poseidons freigelassenen Stieren mit Knüppeln und Schlingen,
ohne eine Eisenwaffe, nach, den Gott anflehend, sie das ihm
wohlgefällige Opfer einfangen zu lassen; den eingefangenen Stier
aber führten sie zur Säule und opferten ihn über jener Schrift
auf dem Knaufe derselben. Auf der Säule aber befand sich außer
den Gesetzen eine Eidesformel, die schwere Verwünschungen über
die ihnen den Gehorsam Verweigernden herabrief. Wen sie nun,
nachdem sie ihren Vorschriften gemäß das Opfertier
geschlachtet, die Weihung aller Glieder des Stiers vornahmen,
dann füllten sie einen Mischkrug und schleuderten für jeden ein
Klümpchen Blutes hinein, das übrige aber trugen sie, nachdem
sie ringsum die Säule reinigten, in das Feuer. Darauf schöpften
sie mit goldenen Trinkschalen aus dem Mischkruge, gossen ihr
Trankopfer in das Feuer und schworen dabei, ihre Urteile den auf
der Säule aufgezeichneten Gesetzen gemäß zu fällen und, wenn
jemand in etwas dieselben übertreten habe, ihn zu bestrafen, in
Zukunft aber in keinem Punkte das Aufgezeichnete zu übertreten
sowie weder einen den Geboten des Vaters zuwiderlaufenden Befehl
zu geben noch einem solchen zu gehorchen. Nachdem jeder von ihnen
feierlich dieses Gelübde für sich selbst und seine Nachkommen
getan, getrunken und die Schale in dem Tempel des Gottes geweiht
hatte, sorgte er für seine Abendmahlzeit und anderer
Bedürfnisse Befriedigung. Wurde es nun finster und war das
Opferfeuer niedergebrannt, dann legten alle ein sehr schönes
dunkelblaues Gewand an, ließen sich an der Brandstätte des beim
Eidschwur dargebrachten Opfers nieder und empfingen während der
Nacht, nachdem sie alle Feuer um den Tempel herum ausgelöscht,
wenn etwa einer den andern einer Gesetzesübertretung
beschuldigte, Urteilssprüche und fällten sie. Diese von ihnen
gefällten Urteilssprüche verzeichneten sie, sobald der Tag
anbrach, auf einer goldenen Tafel und weihten diese mitsamt ihren
Gewändern zur Erinnerung.
Über die Ehrenrechte der einzelnen
Könige gab es manche besonderen Gesetze, das wichtigste aber
war, keiner solle gegen den andern die Waffen erheben und alle
Beistand leisten, wollte etwa jemand unter ihnen versuchen, in
irgendeinem Staate dem Königshause den Untergang zu bereiten,
gemeinsam aber, wie ihre Vorgänger, sollten sie sich beraten
über Krieg oder andere Unternehmungen und dabei dem atlantischen
Geschlechte den Vorrang einräumen. Jedoch einen seiner
Anverwandten zum Tode zu verurteilen, das sollte, ohne Zustimmung
des größeren Teils der Zehn, in keines Königs Gewalt stehen.
Die damals in jenen Gegenden in
solchem Umfange und so geübte Herrschgewalt stellte nun der Gott
gegen unsere Lande, durch Folgendes, wie erzählt wird, dazu
veranlaßt. Viele Menschenalter hindurch, solange noch die
göttliche Abkunft bei ihnen vorhielt, waren sie den Gesetzen
gehorsam und freundlich gegen das verwandte Göttliche gesinnt;
denn ihre Gedanken waren wahr und durchaus großherzig, indem sie
bei allen sie betreffenden Begebnissen sowie gegeneinander
Weisheit mit Milde gepaart bewiesen. So setzten sie auf jeden
Besitz, den der Tugend ausgenommen, geringen Wert und ertrugen
leicht, jedoch als eine Bürde die Fülle des Goldes und des
anderen Besitztums. Üppigkeit berauschte sie nicht, noch entzog
ihnen ihr Reichtum die Herrschaft über sich selbst oder
verleitete sie zu Fehltritten; vielmehr erkannten sie nüchtern
und scharfen Blicks, daß selbst diese Güter insgesamt nur durch
gegenseitige mit Tugend verbundene Liebe gedeihen, daß aber
durch das eifrige Streben nach ihnen und ihre Wertschätzung
diese selbst sowie jene mit ihnen zugrunde gehe.
Bei solchen Grundsätzen also und
solange noch die göttliche Natur vorhielt, befand sich bei ihnen
alles früher Geschilderte im Wachstum; als aber der von dem
Gotte herrührende Bestandteil ihres Wesens, häufig mit
häufigen sterblichen Gebrechen versetzt, verkümmerte und das
menschliche Gepräge die Oberhand gewann: da vermochten sie
bereits nicht mehr ihr Glück zu ertragen, sondern entarteten und
erschienen, indem sie des schönsten unter allem Wertvollen sich
entäußerten, dem, der dies zu durchschauen vermochte, in
schmachvoller Gestalt; dagegen hielten sie die des Lebens wahres
Glück zu erkennen Unvermögenden gerade damals für hochherrlich
und vielbeglückt, wo sie des Vollgenusses der Vorteile der
Ungerechtigkeit und Machtvollkommenheit sich erfreuten.
Aber Zeus, der nach Gesetzen
waltende Gott der Götter, erkannte, solches zu durchschauen
vermögend, daß ein wackeres Geschlecht beklagenswerten Sinnes
sei, und versammelte, in der Absicht, sie dafür
büßen
zu lassen, damit sie, zur Besonnenheit gebracht, verständiger
würden, die Götter insgesamt an dem unter ihnen vor allem in
Ehren gehaltenen Wohnsitze, welcher im Mittelpunkt des gesamten
Weltganzen sich erhebt und alles des Entstehens Teilhaftige zu
überschauen vermag, und sprach zu ihnen: ...
Übersetzung von Hieronymus Müller